Das Märchen vom Roller-räum-Dich-auf
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Ulf J. Froitzheim
freier Journalist
Unser Kolumnist bringt die Brüder Grimm auf den neuesten Stand – mit der Story vom autonomen E-Scooter, der allein nach Hause findet.
29. Oktober 2019Es war einmal ein ... Nein, das wäre gelogen, und mit „es ist einmal“ fängt kein sinnvoller Text an. Ich erzähle Ihnen heute eine Geschichte aus der Gegenwart, aus dem Jahr 2019, das Digitalarchäologen eines fernen Tages wohl als das „Jahr des Elektrischen Tretrollers“ bezeichnen werden. Denn bei der Auszählung unserer gespeicherten Kommunikation werden sie feststellen, dass wir uns bei unserem Lieblings-Aufreger-Thema „Mobilität der Zukunft“ plötzlich kaum noch über Eisenbahnen, E-Autos, E-Bikes oder normale Fahrräder unterhalten haben, sondern neben SUVs, fast nur noch über neumodische Gerätschaften namens „E-Scooter“.
Vielleicht bleiben wir kurz bei diesem Begriff. Wir Silver Ager assoziierten mit dem Anglizismus „Scooter“ bisher spontan die Techno-Band des Ostfriesen Hans-Peter Geerdes alias HP Baxxter, während unsere mit HPs kracherter Musik nicht vertrauten Kinder und Eltern eher an die vierrädrigen Miniatur-Elektroautos dachten, mit denen Opas und Enkel auf Rummelplätzen Massenkarambolage spielen. Der Name „Autoskooter“ geht zurück auf die Gebrüder Lusse aus Philadelphia. Die Unternehmer hatten die vor 100 Jahren erfundene Kirmes-Attraktion „Dodgem“ abgekupfert und verbessert. „Dodge them“ hieß nichts anderes als „hau vor ihnen ab“ – also vor den anderen, die dein Wägelchen rammen wollen. Und wie es sich für ein Plagiat gehört, hat „to scoot“ eine ganz ähnliche Bedeutung: wetzen, flitzen, abhauen.
Urbane Stolperfallen auf zwei Rädern
Binnen weniger Monate haben also die leichten Kraftfahrzeuge, um die sich diese Kolumne heute dreht, ihrem Namen alle Unehre gemacht: Wenn ein Scooter einer ist, der sich ganz fix vom Acker macht, warum zum Teufel nennen wir dann die Gehhilfen fußfauler urbaner Hipster so? Diese Dinger verkrümeln sich ja gerade nicht, wenn ihr Zweck erfüllt und ihr Akku leergenudelt ist. Nein, es ist in allen Metropolen auf diesem Globus, vielleicht mit Ausnahme des gestrengen Singapur, das gleiche Lied: Mieter mit unterentwickeltem Gemeinsinn lassen diese digital-motorisch aufgemotzten Tretroller einfach irgendwo in der Gegend stehen und liegen, bis zu später Stunde ein Billigst-Subunternehmer angedieselt kommt, der sie einsammelt und auflädt. Oder bis ein vom Whatsappen abgelenkter Passant sich böse daran den Fuß anhaut und wutentbrannt die Stolperfalle von der nächstbesten Brücke in die Isar, Spree oder Seine schmeißt.
Vorbild Rasenmähroboter
Der Schwund durch derlei Entsorgungen in Selbstjustiz hatte offenbar sein Gutes. Der chinesische Rollerriese Ninebot, zu dem auch die Firma Segway gehört, hat einen dreirädrigen Scooter entwickelt, der wirklich scootet. Nähert sich der Ladezustand des „Kickscooter T60“ einer kritischen Marke, trollt sich dieser selbsttätig wie ein robotischer Rasenmäher oder Staubsauger zu seiner Ladestation. Dank Radar und Lidar fährt er auf diesem Weg angeblich keine anderen Verkehrsteilnehmer um, sondern umfährt sie. Natürlich wissen wir nicht, was passiert, wenn sich dereinst Dutzende mit Feierabendbier betankte Kickscootermieter und Flotten heimkehrender Autonom-Scooter gegenseitig auszuweichen versuchen und dabei auf Kollisionskurs geraten. Vollautomatische Vollbremsung ohne Schrecksekunde? Das könnte in einer schmerzhaften Massenkarambolage enden, denn E-Scootern und ihren Fahrern fehlt leider der dicke Gummipuffer von Jahrmarkts-Scootern. Zudem kann sich ein umgestürzter T60 noch nicht von selbst wieder aufrichten.
Knüppel aus dem Sack zur Sturzprävention
Als Technik-Optimist mit großem Zutrauen in die Ingenieurskunst neige ich aber zu der Annahme, dass alles gut wird. Spätestens die übernächste Generation des Roller-räum-Dich-auf ist bestimmt mit einem Restalkoholsensor ausgerüstet. Versuchen Personen mit gedämpftem Reaktionsvermögen und Gleichgewichtssinn eine Anmietung, springt drohend ein Knüppel aus einem eingebauten Sack. Als nächste Innovation wird Ninebot den Haushaltsscooter präsentieren, der das Tischlein deckt und später das Geschirr in die Spülmaschine räumt. Dann fehlt uns nur noch der Goldesel zum Glück, damit wir diesen märchenhaften Fortschritt auch bezahlen können.